Österreich: Die revidierten IBA-Regeln zur Beweisaufnahme Herausforderungen und Chancen im Zusammenhang mit dem Aufkommen neuer Technologien
Autor: Scharon Schmidt
Die IBA-Regeln sollten die Kluft zwischen zivilrechtlicher und gewohnheitsrechtlicher Praxis der Beweisaufnahme in der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit überbrücken und sind in ihrer Anwendung durch Gerichte und Parteien gleichermaßen fast allgegenwärtig geworden. Da sie in Ergänzung zum materiellen und prozessualen Recht, das internationale Schiedsverfahren regelt, weite Verbreitung gefunden haben, genießen sie seit langem einen Soft-Law-Status und sind nach wie vor der Maßstab für Beweisverfahren in internationalen Handels- und vertragsrechtlichen internationalen Schiedsverfahren.
Die kürzlich veröffentlichte IBA-Regel 2020 zur Beweisaufnahme (die "2020er-Regeln") ist die zweite Überarbeitung seit ihrer Verkündung im Jahr 1999. Die neuen Bestimmungen sollen die jüngsten Entwicklungen in der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit kodifizieren, insbesondere im Hinblick auf die zunehmende Notwendigkeit und Nachfrage nach virtuellen Verhandlungen. Sie berücksichtigen die Herausforderungen, die sich durch den technologischen Fortschritt ergeben haben, und bieten gleichzeitig bemerkenswerte Ergänzungen zu den wichtigsten institutionellen und Ad-hoc-Regeln, um den Prozess der Beweiserhebung zu erleichtern und seine Effizienz zu optimieren.
Im Folgenden wird ein umfassender Überblick über die wichtigsten Neuerungen gegeben.
Neue Ergänzungen:
Umfang
- Artikel 1.2 der 2020er-Regeln gleicht den Anwendungsbereich ausdrücklich an Absatz 2 der Präambel der 2010er-Regeln an. Während zuvor nichts über die teilweise Anwendung der IBA-Regeln gesagt wurde, sehen die neuen Bestimmungen ausdrücklich deren Anwendung "ganz oder teilweise" vor.
- Im Falle von Widersprüchen zwischen den Allgemeinen Regeln und den IBA-Regeln hat das Gericht letztere "in einer Weise anzuwenden, die es für am besten geeignet hält, um die Ziele [beider] so weit wiemöglich zu erreichen." (Überarbeitung hervorgehoben).
Cybersecurity und Datenschutz (Artikel 2)
i. Vorab-Konsultation der Parteien (Artikel 2.2(e))
- Die 2020-Regeln haben Cybersicherheit und Datenschutz als eine der Beweisfragen hinzugefügt, die eine vorherige Konsultation der Parteien erfordern.
- Die Bestimmung unterstreicht, wie wichtig es ist, technologiebezogene Angelegenheiten in einem frühen Stadium des Verfahrens zu erörtern, um die Beweisaufnahme effizienter, kostengünstiger, sicherer und ggf. GDPR-konform zu gestalten.
- Der überarbeitete Artikel stützt sich auf bestehende Leitlinien1 und ist im Zusammenhang mit der COVID-19-Krise angesichts der Sensibilität der Daten und des erhöhten Risikos von Cyberangriffen eine entscheidende Ergänzung.2
Fernanhörungen (Artikel 8)
i. Protokoll für Remote-Beweisanhörungen (Artikel 8.2)
- Angesichts der gestiegenen Nachfrage nach dem Einsatz von Technologie als unmittelbare Folge der COVID-19-Pandemie bietet der neu eingeführte Artikel 8.2 einen ausdrücklichen Rahmen für die Durchführung von Fernverhandlungen.
- Es erlaubt dem Gericht, solche Anhörungen ganz oder teilweise von Amts wegen oder auf Antrag der Parteien anzuordnen.
- Das Gericht hat eine positive Pflicht, die Parteien vor der Erstellung eines Fernanhörungsprotokolls zu logistischen, verfahrenstechnischen und technischen Fragen zu konsultieren. Um sicherzustellen, dass die Anhörung "effizient, fair und, soweit möglich, ohne unbeabsichtigte Unterbrechungen" durchgeführt werden kann, kann das Protokoll u. a. folgende Punkte behandeln:
- Die zu verwendende Technologie;
- Vorabtest der Technologie oder Schulung im Umgang mit der Technologie;
- Die Start- und Endzeiten unter besonderer Berücksichtigung der Zeitzonen, in denen sich die Teilnehmer befinden werden;
- Wie Dokumente vor einen Zeugen oder das Schiedsgericht gelegt werden können;
- Maßnahmen, die sicherstellen, dass Zeugen, die mündlich aussagen, nicht unangemessen beeinflusst oder abgelenkt werden.
ii. Mündliche Zeugenaussage (Artikel 8.5)
- Die neuen Regeln erkennen die Befugnis der Gerichte an, mündliche direkte Zeugenaussagen zuzulassen, unabhängig davon, ob eine schriftliche Zeugenaussage oder ein Sachverständigenbericht anstelle einer solchen Zeugenaussage vorgelegt wurde.
Zulässigkeit von Beweismitteln (Artikel 9)
i. Illegal erlangte Beweise (Artikel 9.3)
- Nach dem neu eingefügten Artikel 9.3 ist das Gericht berechtigt, auf eigene Initiative oder auf besonderen Antrag der Parteien rechtswidrig erlangte Beweise auszuschließen.
- Angesichts des Mangels an Einheitlichkeit zwischen den nationalen Gesetzen in Bezug darauf, was eine Rechtswidrigkeit von Beweismitteln darstellt und welche Umstände dazu führen können, erkennen die 2020-Regeln an, dass eine solche Bestimmung die Berücksichtigung von Aspekten wie z. B.:
- Beteiligung der Partei an der besagten Illegalität;
- Proportionalität;
- Art des Beweises, d.h. Wesentlichkeit oder ergebnisbestimmend;
- ob das Beweismittel in den öffentlichen Bereich gelangt ist;
- Schwere der Rechtswidrigkeit.
- In Ermangelung eines Konsenses in dieser Frage räumen die neuen Bestimmungen dem Gericht einen breiten Ermessensspielraum in Bezug auf die Zulassung und Bewertung solcher Beweise ein.
ii. Vertraulichkeit (Artikel 9.5)
- Die Regeln 2020 bauen auf der Unterscheidung auf, die in der Vorgängerversion zwischen Dokumenten, die als Beweismittel vorgelegt werden, und solchen, die auf besonderen Antrag einer gegnerischen Partei vorgelegt werden, gemacht wurde.
- Im Gegensatz zur früheren Version, die die Frage der Vertraulichkeit unberücksichtigt ließ, wurde der Schutzbereich so erweitert, dass er auch für Dokumente gilt, die als Reaktion auf Dokumentenproduktionsanforderungen erstellt wurden.
Substanzielle Änderungen:
Dokumentenproduktion (Artikel 3)
i. Antwort auf Einwände (Artikel 3.5)
- Eine der wichtigsten Änderungen betrifft die Möglichkeit der Parteien, auf den Einspruch der Gegenpartei gegen Anträge auf Vorlage von Dokumenten zu reagieren. Obwohl es den Parteien bereits unter der Schiedsgerichtsordnung 2010 erlaubt war, Einsprüche zu erheben, erlauben die neuen Änderungen den Parteien nun ausdrücklich, eine Antwort zu erteilen, "wenn das Schiedsgericht dies anordnet, und zwar innerhalb der angeordneten Frist".
ii. Aufforderung zur Vorlage und Anhörung der Parteien (Artikel 3.7)
- Die frühere Pflicht des Gerichts, die Parteien zu konsultieren, wenn es den Produktionsantrag und den Einspruch dagegen prüft, wurde gestrichen. Die Bedeutung dieser Änderung ist zweifach:
- Sie spiegelt die übliche Praxis wider, wonach das Gericht über den Antrag und den Einspruch ohne weitere Beratung entscheidet (die Notwendigkeit einer Beratung wird durch frühere Diskussionen über den Prozess der Dokumentenproduktion während z.B. der Fallmanagementkonferenz überflüssig);
- Es beseitigt eindeutig die irrige Annahme, dass eine zusätzliche Konsultation der Parteien erforderlich ist.
iii. Übersetzung (Artikel 3.12(d))
- Während die Regeln von 2010 bereits zwischen Dokumenten unterschieden, die als Beweismittel vorgelegt werden, und solchen, die als Antwort auf einen Antrag auf Vorlage vorgelegt werden, stellt die neue Bestimmung klar, dass letztere nicht Teil des Beweisprotokolls sind und daher nicht übersetzt werden müssen.
- Die Last, eine Übersetzung vorzulegen, liegt daher bei der Partei, die sich auf die als Beweis vorgelegten Dokumente beruft.3
Zeugen- und Sachverständigenaussagen (Artikel 4-6)
i. Tatsachenzeugen (Artikel 4) und von der Partei benannte Sachverständige (Artikel 5)
- Der Anwendungsbereich für die Zulassung von Zeugenaussagen oder Sachverständigengutachten im zweiten Durchgang wurde erweitert. Anstatt lediglich Vorbringen zu Sachverhalten einzubeziehen, die zuvor von einer anderen Partei nicht vorgetragen wurden, erlauben die neuen Bestimmungen die Einbeziehung "überarbeiteter oder zusätzlicher" Zeugenaussagen und Sachverständigenberichte, wenn diese auf neuen "Entwicklungen beruhen, die in einer früheren Zeugenaussage [bzw. einem "Sachverständigenbericht"] nicht hätten behandelt werden können".
ii. Vom Gericht bestellte Sachverständige (Artikel 6)
- Die Regeln 2020 sehen wie die Vorgängerversion vor, dass Auskunftsersuchen von Sachverständigen gestellt werden können, "soweit sie für den Fall relevant und für dessen Ausgang wesentlich sind".
- In dem Bestreben, jede Andeutung einer autoritativen Gleichwertigkeit zwischen Schiedsgericht und Sachverständigen zu untergraben, wurde jedoch der folgende Satz gestrichen: "Die Befugnis eines vom Schiedsgericht ernannten Sachverständigen, solche Informationen oder Zugang zu verlangen, ist dieselbe wie die Befugnis des Schiedsgerichts".
- Die neuen Überarbeitungen stellen klar, dass die Befugnis zur Beilegung von Streitigkeiten über Informationen oder den Zugang, einschließlich Fragen der Vertraulichkeit, beim Gericht liegen soll.
Die 2020 Rules bieten eine willkommene Orientierungshilfe und einen zeitgemäßen, zukunftsweisenden Rahmen, um die jüngsten Herausforderungen bei der Beweisaufnahme zu bewältigen. Während der Anwendungsbereich der Best Practices (z. B. Übersetzung von Dokumenten, Einsprüche gegen Anträge auf Vorlage von Dokumenten) erweitert wird, bewahren die neuen Überarbeitungen die notwendige Flexibilität, um das Beweisaufnahmeverfahren an die Anforderungen des jeweiligen Falles sowie die Bedürfnisse und Erwartungen der Beteiligten anzupassen.
Dennoch lassen die neuen Ergänzungen erhebliche Lücken, z. B. in Bezug auf:
- Das Ausmaß des Privilegs und des rechtlichen Hindernisses: In Anbetracht der divergierenden nationalen Gesetze zu dieser Frage, erkennen die Regeln zwar die Erwartung der Parteien auf ein Privileg an, legen aber keinen definitiven Standard für die Berufung darauf fest.
- Die Bedeutung von "Daten in elektronischer Form: Während die Regeln erlauben, dass elektronisch gespeicherte Informationen über "bestimmte Dateien, Suchbegriffe, einzelne oder andere Mittel der Suche" identifiziert werden können, versäumen sie es, eine detailliertere Darstellung oder Definition darüber zu geben, was "in elektronischer Form aufbewahrte Dokumente" sein können.
- Das Ziehen von nachteiligen Schlüssen: Die Regeln lassen z.B. offen, was die Parteien in ihrem Antrag ansprechen sollen, ob und wenn ja, zu welchem Zeitpunkt das Gericht die Parteien von sich aus über seine Absicht, negative Schlussfolgerungen zu ziehen, informieren soll oder ob den Parteien die Möglichkeit gegeben wird, auf die erwartete Schlussfolgerung zu antworten.
Ungeachtet der Tatsache, dass die vorgenannten Fragen ungelöst bleiben, ist es lobenswert, dass die Regeln 2020 ausdrücklich die Verlagerung von physischen persönlichen Anhörungen zu solchen, die aus der Ferne durchgeführt werden, anerkannt haben. Ihre Anleitung zu dieser relativ neuen Praxis bietet einen unschätzbaren Ausgangspunkt für die Organisation von Anhörungen unter Verwendung von Videokonferenzen oder anderer Kommunikationstechnologie. Vielleicht noch wichtiger ist jedoch, dass die Überarbeitung die Möglichkeit eröffnet, dass Fern- oder Hybridverhandlungen zu einem festen Bestandteil der schiedsrichterlichen Praxis werden und nicht nur ein provisorisches Phänomen der heutigen Zeit.
Fußnoten
1. Z.B. Draft ICCA-IBA Roadmap to Data Protection in International Arbitration; ICCA-New York City Bar-CPR Protocol on Cybersecurity in International Arbitration.
2. Wie bei einem Schiedsverfahren aus dem Jahr 2015 zu einem maritimen Grenzstreit zwischen China und den Philippinen (PCA Case No. 2013-19), siehe http://www.pcacases.com/web/sendAttach/1503.
3. Es bleibt dabei, dass dem Beweis eine Übersetzung beizufügen ist, wenn die Sprache des Dokuments von der des Schiedsverfahrens abweicht.
Der Inhalt dieses Artikels soll einen allgemeinen Leitfaden zu diesem Thema bieten. Für Ihre spezifischen Umstände sollten Sie fachkundigen Rat einholen.