Österreich: Online-Gerichte - Covid-19, Österreich und die jüngsten Veränderungen in der Praxis der Nutzung von Videokonferenztechnologie
Autor: Scharon Schmidt
Online-Gerichte - Ermöglicht durch Technik und erleichtert durch Recht
Da die Zahl der COVID-19-Fälle immer weiter ansteigt, sahen sich Regierungs- und Justizbehörden gezwungen, neue Maßnahmen zu erwägen, um die öffentliche Gesundheit zu schützen und neue Wege zur Fernanbindung zu eröffnen. In dem Bestreben, die notwendigen Sicherheitsvorkehrungen zur Eindämmung des Risikos steigender Infektionsraten aufrechtzuerhalten und gleichzeitig sicherzustellen, dass die Parteien Zugang zu fairen Anhörungen erhalten und die Grundsätze der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit gewahrt bleiben, wurden in einer Reihe von Gerichtsbarkeiten neue gesetzliche Bestimmungen eingeführt, um den Ablauf von Gerichtsverfahren zu klären und zu erleichtern.
Obwohl es sich bei der Pandemie um ein Problem der öffentlichen Gesundheit handelt, hat sie beträchtliche rechtliche und politische Reaktionen hervorgerufen, die die Möglichkeiten der Menschen, Zugang zur Justiz zu erhalten, stark beeinträchtigt haben.1 Mit der zunehmenden Einschränkung der Freizügigkeit hat das österreichische Parlament eine Reihe von Gesetzen erlassen, die den Umgang mit der österreichischen Justiz betreffen.
Dieser Artikel konzentriert sich auf die jüngsten Entwicklungen in der Gesetzgebung, die Auswirkungen auf den Betrieb von Gerichten und Gerichtsverhandlungen in Österreich haben. Er wird sich nicht mit den gesetzlichen Änderungen befassen, die unter anderem die Aussetzung oder Verlängerung von materiellen Fristen einschließlich Verjährungsfristen oder Verzugszahlungspflichten betreffen. Stattdessen wird dieser Artikel auf die neuen Regelungen zur Durchführung von Gerichtsverhandlungen mittels Videotechnik eingehen und deren Vorteile insbesondere in Bezug auf Hochrisikogruppen für COVID-19 aufzeigen. In diesem Zusammenhang wird im Folgenden auf aktuelle Eingaben der Oblin Rechtsanwälte GmbH vor dem Bezirksgericht Liesing Bezug genommen und für einen ganzheitlicheren, flexibleren Ansatz plädiert, der den kontinuierlichen effektiven Betrieb des österreichischen Justizsystems sowie die gleichberechtigte und zeitnahe Inanspruchnahme seiner Leistungen sicherstellt.
Remote-Anhörungen
Zwar gibt es seit Juli 2020 wieder Parteianhörungen in Österreich, doch finden sie derzeit nur eingeschränkt Anwendung, nämlich "soweit dies zur Wahrung der Verfahrens- und Parteirechte erforderlich ist"2 und dürfen nur dann durchgeführt werden, "wenn es zur Abwendung von Gefahren für Leben und körperliche Unversehrtheit oder zur Verhütung nicht wieder gutzumachender Schäden erforderlich ist."3
Das österreichische Zivilprozessrecht schreibt zwar eine mündliche, unmittelbare und öffentliche Verhandlung vor, lässt aber Ausnahmen zu, indem es erlaubt, Streitigkeiten über alternative Kommunikationsmittel, insbesondere den elektronischen Rechtsverkehr (Elektronischer Rechtsverkehr, ERV) oder Videokonferenz-Tools zu klären. Ersteres wird in Österreich schon seit vielen Jahren erfolgreich eingesetzt. Es wurde 1990 eingeführt und bildet einen umfassenden Rahmen für die "elektronische Übermittlung von Anträgen oder Eingaben und die automatische Übermittlung von Verfahrensdaten an die Automatisierung von Gerichtsverfahren."4 Als einheitliches und effizientes Instrument für die elektronische Zustellung von Dokumenten durch die Gerichte unterstützt es auch während der COVID-19-Pandemie die Bemühungen um eine schnellere Rechtsprechung für die Nutzer von Gerichten und Tribunalen zu erzielen.
Der Einsatz von Videokonferenzen ist ebenfalls kein Novum in österreichischen Gerichtsverfahren, allerdings war ihr Einsatz bisher nur unter Umständen zulässig, die eine persönliche Beweisaufnahme erforderlich machen würden oder ein solches Verfahren aus prozessökonomischen Gründen vorteilhaft erscheinen zu lassen. Videokonferenzen zu Zwecken der Beweisaufnahme in Zivilsachen sind in § 277 der österreichischen Zivilprozessordnung geregelt (Zivilprozessordnung, ZPO), während § 165 der Strafprozessordnung (Strafprozessordnung, StPO), seine Verwendung im Zusammenhang mit der mündlichen Aussage von schutzbedürftigen Zeugen vorsieht, die zusätzlichen Schutz benötigen.5
In dem Bemühen, die Fortführung von Zivilprozessen während der COVID-19-Pandemie zu erleichtern, wurden die Gerichtsverfahren erheblich verändert.
Das Bundesgesetz über Begleitmaßnahmen für COVID-19 in der Justiz, BGBl. I 2020/30 (Bundesgesetz betreffend Begleitmaßnahmen zu COVID-19 in der Justiz BGBI I 2020/30, [1. COVID-19-JuBG]),6 die am 6. Mai 2020 in Kraft getreten ist, schafft die rechtliche Grundlage für den Einsatz von Videotechnik und Konferenzen in mündlichen Verhandlungen. Sie soll das Gerichtsverfahren so anpassen, dass es den Bedürfnissen der Gerichtsnutzer entgegenkommt und gleichzeitig die oben angesprochenen etablierten elektronischen Kommunikationsmittel erweitert.
Danach können Verhandlungen sowie Anhörungen bis zum 31.12.2020 ohne die physische Anwesenheit von Parteien oder deren Vertretern durchgeführt werden. Damit wird die Beweisaufnahme in der mündlichen Verhandlung oder außerhalb der mündlichen Verhandlung ermöglicht und gleichzeitig das Anwesenheitsrecht von Personen, die zur Verhandlung geladen werden sollen (z.B. Sachverständige, Zeugen, Dolmetscher etc.) gestärkt, unabhängig davon, ob die Voraussetzungen des § 277 ZPO erfüllt sind. Damit die neuen Regeln vollstreckbar sind, müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein:
- Der Zugang zu geeigneter Kommunikationstechnik muss sichergestellt sein (§ 3 Abs 1 Z 1 1. COVID-19-JuBG);
- Alle Parteien müssen dem Einsatz dieser Technik zustimmen, was als gegeben gilt, wenn die Parteien nicht innerhalb einer vom Gericht gesetzten angemessenen Frist widersprechen (§ 3 Abs 1 Z 1 1. COVID-19-JuBG);
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- Außerstreitige Gerichtsverfahren (Außerstreitverfahren), die regelmäßig außerhalb des Gerichtssaales stattfinden, sind von der vorherigen Genehmigungspflicht ausgenommen, z.B. Pflegeheime, Krankenhäuser etc. (§ 3 Abs 1 Z 2 1. COVID-19-JuBG);
- Die Parteien können bescheinigen, dass ein erhöhtes Gesundheitsrisiko sowohl für sie selbst als auch für Personen, mit denen sie in notwendigem privaten und beruflichen Kontakt stehen, besteht (§ 3 Abs 2 1. COVID-19-JuBG).
Das Gesetz räumt den Gerichten dabei einen erheblichen Spielraum ein, um räumlichen Einschränkungen Rechnung zu tragen und sicherzustellen, dass die notwendigen Vorkehrungen getroffen werden, um eine mögliche Gefährdung durch den Virus zu minimieren. Die Entscheidung über die Angemessenheit des Einsatzes von Videokonferenztechnik liegt allein im Ermessen des Gerichts.7 Der beauftragte Richter muss also prüfen, welche Maßnahmen angesichts der von COVID-19 ausgehenden Gesundheitsrisiken erforderlich sein können und inwieweit deren Umsetzung gewährleistet werden kann.8 Wenn das Gericht keine Videotechnik einsetzt und dennoch eine persönliche Anhörung nicht zulässt (aus den oben genannten Gründen des Platzmangels oder aus gesundheitlichen Gründen), können die Parteien einen Antrag auf Anhörung innerhalb einer bestimmten Frist stellen (Fristsetzungsantrag) gemäß § 91 des Gerichtsorganisationsgesetzes (Gerichtsorganisationsgesetz, GOG).9
Die neuen Bestimmungen in Aktion
Das Landgericht Liesing (Bezirksgericht) hat sich kürzlich mit dem Vorbringen der Oblin Rechtsanwälte GmbH befasst, in dem es um die Anwendung des § 3 Abs. 2 des 1.COVID-19-JuBG und den damit verbundenen Schutz von Personen mit erhöhtem Coronavirus-Risiko ging. Obwohl ein Urteil noch aussteht, wird im Folgenden auf den Sachverhalt eingegangen und die im Verfahren vorgebrachten Argumente skizziert, um zu verdeutlichen, wie der Einsatz von Videotechnik, wie er durch die neuen Vorschriften ermöglicht wird, zu einer ordnungsgemäßen Fernjustiz beitragen, diese unterstützen und fördern kann.
i. Gesundheit
- Der Beklagte ist deutscher Staatsangehöriger und lebt seit seiner Pensionierung mit seiner Familie auf den Philippinen. Als Inhaber eines dauerhaften Special Resident Retiree's Visa (SRRV) war Manila sein Hauptwohnsitz, was auch aus seinem Reisepass ersichtlich ist. Vor dem Ausbruch des Virus hielt er sich fallweise für einige Monate in Österreich auf.
- Da der Beklagte 77 Jahre alt ist, männlich und an Grunderkrankungen leidet, besteht für ihn ein erhöhtes Risiko einer schweren Erkrankung durch COVID-19. Um eine mögliche Ansteckung zu vermeiden, wurde ihm, wie in einem ärztlichen Attest dokumentiert, eine häusliche Selbstquarantäne angeraten und er befindet sich seit dem 13.08.2020 weiterhin in Behandlung wegen Herzschwäche, Herzrhythmusstörungen sowie Bluthochdruck.
- In Anlehnung an die Risikogruppen-Verordnung COVID-19 (COVID-19-Risikogruppen-Verordnung)10 des österreichischen Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz, sind Indikatoren für Personen mit hohem Risiko:
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- Chronische Herzerkrankung mit dauerhaft behandlungsbedürftiger Endorganschädigung wie Herzinsuffizienz (§ 2 Abs 1 Z 2 lit b COVID-19-Risikogruppen-Verordnung); oder
- Arterielle Hypertonie mit bestehender Endorganschädigung, insbesondere chronischer Herz- oder Niereninsuffizienz oder unkontrollierbarem Blutdruck (§ 2 Abs 1 Z 9 COVID-19 COVID-19-Risikogruppen-Verordnung).
ii. Aktueller Stand der Pandemie am Aufenthaltsort und Einreisebedingungen nach Österreich
- Eine Reisewarnung für die Philippinen wurde vom österreichischen Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten herausgegeben (Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten, BMEIA); das am 15.03.2020 verhängte Einreiseverbot wurde aufgehoben und die Wiedereinreise ist seit dem 01.08.2020 wieder möglich, wenn auch unter strengen Auflagen:
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- Negativer PCR-Test bei Ankunft oder Eintritt in eine zehntägige Quarantäne in einer geeigneten Unterkunft, deren Verfügbarkeit bestätigt werden muss;
- Der Zugang zu vorgebuchten, lokalen Quarantäneeinrichtungen muss nachgewiesen werden;
- Nicht-Residenten müssen nachweisen, dass sie ein Visum besitzen.
- Seit August befindet sich das Land in einem abriegelungsähnlichen Zustand. Personen über 60 Jahren ist es verboten, ihre Häuser zu verlassen.
- Es wurden Quotenregelungen eingeführt, um die maximale Anzahl der täglichen Ankünfte zu regulieren, und die Anzahl der internationalen Flüge wurde deutlich eingeschränkt.
iii. Ausblick
Der Status des Beklagten als "Special Resident Retiree's Visa" hindert ihn nach § 13 des philippinischen Einwanderungsgesetzes von 1940 daran, nach einem vorübergehenden Aufenthalt in Österreich wieder in die Philippinen einzureisen. Da er weder einen Wohnsitz in Österreich hat noch Verwandte im Land hat, die ihn unterstützen und pflegen könnten, ist eine Reise außerhalb seines derzeitigen Wohnsitzes nicht möglich.
Wie der Sachverhalt dieses Falles nahelegt, ist es angesichts der aktuellen Umstände unerlässlich geworden, einen Rechtsrahmen zu schaffen, der ein Gleichgewicht zwischen risikoabwehrenden Notfallmaßnahmen und dem Interesse am Schutz der Rechtsstaatlichkeit sowie dem Zugang zur Justiz und einem ordnungsgemäßen Verfahren herstellt. Die Videokonferenz hat sich in Zeiten von COVID-19 als eine Technologie erwiesen, die in der Lage ist, Störungen der üblichen Gerichtspraktiken zu reduzieren, mögliche Vorurteile, mit denen Gerichtsnutzer konfrontiert werden, zu minimieren und sicherzustellen, dass die Achtung vor dem Leben und der Gesundheit anderer nicht missachtet wird.11 Ungeachtet der Herausforderungen, die sich aus den jüngsten Entwicklungen in der Gesetzgebung ergeben können, bieten die neuen Bestimmungen viele Vorteile für die Art und Weise, wie grenzüberschreitende Streitigkeiten beigelegt werden.
Da nicht mehr auf die Verfügbarkeit von physischen Gerichtssälen gewartet werden muss, können Anträge nicht nur schneller bearbeitet, sondern auch Rückstände bei den Gerichtsverfahren deutlich reduziert werden.12 Mit der zunehmenden Anzahl virtueller Anhörungen werden die Institutionen in Zukunft auch besser in der Lage sein, die Arbeit der Justiz unabhängig von unvorhersehbaren und außergewöhnlichen Ereignissen, die die Schließung von Gerichtsgebäuden erforderlich machen, fortzusetzen.13 Aus diesen Gründen sollte der Einsatz virtueller Kommunikationsmittel gefördert und Wahrnehmungen ihrer Unzulänglichkeiten ausgeräumt werden. Da die Verlagerung auf die virtuelle Justiz an Dynamik gewinnt, muss ihrer dauerhaften Integration in das bestehende Recht eine Diskussion unter den Rechtspraktikern und auf politischer Ebene vorausgehen, um sicherzustellen, dass mögliche Spannungen mit anerkannten Verfahrensgrundsätzen beseitigt werden.
Fußnoten
1. UNODC (2020) Sicherstellung des Zugangs zur Justiz im Kontext von COVID-19. UNODC Guidance Note. Verfügbar unter: https://www.unodc.org/documents/Advocacy-Section/Ensuring_Access_to_Justice_in_the_Context_of_COVID-191.pdf [Zugriff am 10.10.2020], S. 6.
2. Knoetzl, B. (2020) COVID-19 Pandemci. Auswirkungen von COVID-19 auf den Gerichtsbetrieb und die Prozesspraxis. IBA Litigation Committee, S. 8.
3. Knoetzl (n ii), S. 8.
4. Bundesministerium Republik Österreich Digitales und Wirtschaft (2017) Verwaltung im Netz. Die ABC-Führung von eGovernment in Österreich, p177.
5. Europäisches E-Justiz-Portal - Allgemeine Informationen (2018) Beweisaufnahme per Videokonferenz - Österreich. Verfügbar unter: e-justice.europa.eu/content_taking_evidence_by_videoconferencing-405-at-de.do?member=1 [Zugriff am 11.10.2020].
6. Erhältlich bei: https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=20011087&FassungVom=2020-03-25.
7. Scholz-Berger, F.; Schumann J. (2020) Die Videokonferenz als Krisenlösung für das Zivilverfahren. ECOLEX. Verfügbar unter: https://zvr.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/i_zivilverfahrensrecht/Scholz/ecolex_2020-06__469_Florian_Scholz-Berger.pdf [Zugriff: 12.10.2020], p470.
8. Scholz-Berger; Schumann (n vii), S. 471.
9. Scholz-Berger; Schumann (n vii), S. 471.
10. Erhältlich bei: https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=20011167.
11. "COVID-19 und der globale Ansatz für weitere Gerichtsverfahren, Anhörungen". Globale Anwaltskanzlei | Norton Rose Fulbright, www.nortonrosefulbright.com/en/knowledge/publications/bbfeb594/covid-19-and-the-global-approach-to-further-court-proceedings-hearings [Zugriff am 10.10.2020].
12. Baker McKenzie (2020) Die Zukunft der Streitschlichtung: Welche Veränderungen die Rückkehr zur "Normalität" überleben sollten. Zukunft der Streitigkeiten - Thought Leadership. Verfügbar unter: https://www.bakermckenzie.com/-/media/files/insight/publications/2020/06/future-of-dispute-resolution–what-changes-should-survive-the-return-to-normal.pdf [Zugriff am 11.10.2020], S. 7.
13. Baker McKenzie, (n xii).
Der Inhalt dieses Artikels soll einen allgemeinen Leitfaden zu diesem Thema bieten. Für Ihre spezifischen Umstände sollten Sie fachkundigen Rat einholen.